Bei uns ist alles un Ordnung!
eine Bewegungspartitur von Katharina Kummer
Uraufführung am Puppentheater Halle 13.04.2017
Text/Regie: Katharina Kummer
Bühne: Angela Baumgart
Videografie: Conny Klar
Kostüme: Sabrina Krämer
Musik und Ton: Karl Philipp Kummer
INTERVIEW
(Second interview from the compilation: „Allegorie des Übergangs“)
Allegorie des Übergangs EIN VERLAUFENER SPAZIERGANG MIT KATHARINA KUMMER
MARIANNE DIETERLE 2017
"Bei uns ist alles un Ordnung! Eine Bewegungspartitur" heißt dein neues Stück. Bewegungspartitur. Was soll das sein?
Das ist ein Ausdruck von Meyerhold, dem Erfinder der Biomechanik, einer Schauspielmethode die stark vom Körper und seinen Bewegungen ausgeht. "Die Worte sind nur Muster im Gewebe der Bewegungen" hat Meyerhold gesagt. Da sich das Stück um Tod und Selbstmord rankt und der Körper unentrinnbarer Zeuge des Todes ist, habe ich mich von Anfang an mit dem Körper auseinandergesetzt. Ich wollte ursprünglich fast ohne Text, hauptsächlich in Bildern arbeiten und nur einige wenige Worte, die den Probenprozess überleben, formelhaft zurücklassen. Jetzt ist es doch wieder eine Textlawine geworden. Allerdings durchaus eine formelhafte. Der Text ist selbst ein tanzender Körper.
Vor der Arbeit an "MIRJAM & MYRIAM oder: Sieh dich vor, im Traum eines kleinen Mädchens gefangen zu sein" hast du den Wunsch geäußert, dass am Ende alle Zuschauer Mädchen sein wollen. Hattest du für diese Arbeit auch einen so klaren Vorsatz?
Ich wollte dass alle weinen. Und dass alle einmal durch den Tod gegangen sind, um danach das Leben umso mehr zu schätzen und zu feiern. Das ist kein origineller Gedanke, aber eine große und schöne Aufgabe angesichts all der suizidalen Depressionen und Exzesse, die uns umgeben. Eine absolut unzynische Aufgabe.
Uns umgeben suizidale Depressionen und Exzesse?
Ja. Tod und Selbstmord haben Konjunktur in Zeiten, die als krisenhaft empfunden werden. Im Zuge der Erfahrung von Porosität der eigenen strukturellen wie geistigen Realitätstextur haben viele ''Abendlandsleute'' dieser Zeiten begonnen, sich geradezu genüsslich in eine "Vorkriegszeit" zu imaginieren - wo doch die Gespenster längst im Haus sind. Und bei Intellektuellen vor und während der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts lassen sich in der Tat parallele Erfahrungswelten finden. Ein häufiges Motiv ist der Wunsch nach Aufgabe des eigenen Lebens im Zuge von Extremerfahrung der Welt und Verzweiflung über die Empfindung von Begrenztheit, sich ihr gegenüber zu verhalten. Auch eine Erfahrung von Schuld und die Ratlosigkeit, wie die eigenen Verantwortlichkeiten einzuordnen und zu verwalten sind. Beim Kongress "Dialectics of Liberation" 1967 in London wurde der Kongressteilnehmer Stokely Carmichael (Bürgerrechtler und damals Mitglied der Black Panther Party) von einem weißen Studenten gefragt, was er tun könne, um die Kämpfe der Schwarzen zu unterstützen. Carmichael antwortete ihm: "Go home, kill your mother, kill your father, hang yourself. Meine erste Arbeitsparole in diesem Sinne war: „TIME TO DESERT - Kollektiver Selbstmord statt Widerstand!“ (Unter diesem Titel ist mittlerweile auch ein Stück entstanden - unter Mitwirkung von Studierenden des diverCITYLAB Wien. Anm. der Interviewerin.)
Der Text behauptet drei Stimmen und es ist doch alles EINE Frau. Wieso hast Du gerade diese eine in sich dreigeteilte Frau zur Stimme Deines Tod- und Selbstmord-Stückes gemacht?
Dem Text im Nacken sitzt eine Gestalt der slawischen Mythologie: die Baba Yaga. Als Hexe repräsentiert sie das Andere, Ausgeschlossene, Bedrohliche, Störende der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Hexe wird zugleich von diesen Verhältnissen hervorgebracht und gekennzeichnet - sie ist Produkt der und Widerspruch gegen die Verhältnisse.
Die Figur der Baba Yaga hat die Motivik des Stückes stark geprägt. Sie ist prädestiniert dafür, Transformationen zu verwalten (das Kinder-in-den-Ofen-schieben ist eine einzige Transformations-Metapher) und durch Zeiten des Übergangs zu führen. In Zusammenhang dieses Stückes kann sie nicht nur als Stellvertreterin einzelner Leben auftauchen, sondern auch als Metapher einer Weltanschauung, einer Sinn-Matrix, einer Lebensweise, die im Sterben liegt bzw. dringend einer Transformation bedarf. In ihrem mythologischen Ursprung galt sie als Totengöttin, die Verstorbene in die Nachwelt begleitet. Viele Göttinnen-Gestalten manifestieren sich dreifach: in der Alten, der Mittleren und der Jungen. Aus drei mach eins.
Der Text ist ein Solo für drei Stimmen, die aus einer Frau sprechen, meine Inszenierung reflektiert die dreifache Göttin, indem ich meine Spielerin aus Fleisch und Blut noch drei mal in den Raum stelle - aber aus Licht, also in Form von Projektionen und zwar nach dem russischen Matroschkaprinzip in Form einer kleinen, einer mittleren und eine großen Projektion.
Verrückt. Die drei habe ich natürlich überall gesehen, dass die Frau magische Fähigkeiten besitzt auch - ich dachte, sie ist vielleicht tot und geistert in der Nachwelt herum - aber auf die Baba Yaga wäre ich nicht gekommen.
Wie gesagt, die Baba Yaga war mein Denkanlass, sie hat viel im Stück herumgezaubert und ist dann - als Hexe kann sie sich das schließlich leisten - wieder unsichtbar geworden. Das mit der Toten zwischen den Welten ist allerdings auch ein Motiv. Um eine poetische Zwischenwelt zu erfinden, habe ich unter anderem die Totenbräuche der russisch-orthodoxen Kirche
erforscht. Man geht hier davon aus, dass die Seele einer verstorbenen Person 40 Tage noch in einem Zwischenbereich teils auch auf der Erde unter den Lebenden wandelt.
Das Stück wurde im Rahmen eines mehrteiligen Abends mit Russland-Bezug uraufgeführt. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gab es unter russischen Intellektuellen eine regelrechte Selbstmord-Mode, insbesondere in Dichterkreisen. Auch Texte dieser Dichter habe ich zum Denkanlass genommen.
Außerdem begleiteten mich die Überlegungen und Eindrücke, die ich in den vielen Gesprächen über den Tod mit alten Frauen
aus Russland gesammelt habe und die Geschichte einer Frau, die nach dem zweiten Weltkrieg als sogenanntes „Russenbalg“ ausgesetzt wurde.
Wie Du Dir denken kannst, stelle ich wieder die Frage: was hat Deine Arbeit mit Puppentheater zu tun - es kommt nur einmal im sogenannten "goldenen Moment" - eine Marionette vor und Prolog und Epilog sind Maskenspiel. Sonst sehe ich nur die Schauspielerin - und zwar mehrfach: aus Fleisch und Blut und - wie du gesagt hast aus Licht - auf den drei Projektionen.
Zum einen hatte ich formal den Anspruch, bin zum Äußersten auszureizen, wie puppentheatral Filmgestalten verwendet werden können. Das heißt, wieviel Autonomie ich dem vorgefertigten Mittel abtrotzen kann, wie viel Eigenleben die Projektionen bekommen können. Sie erobern nach und nach das Feld, spielen sich an die Rampe und gegenseitig an die Wand. Das liegt maßgeblich an der für Theaterarbeit prädestinierten Videografin mit der ich gearbeitet habe. Sie hat die Unmöglichkeit ihres Metiers, auf der Bühne direkt zu reagieren bzw. ihr Instrument direkt zu spielen nahezu außer Kraft gesetzt. Sie wurde quasi zur Mitspielerin, zur Puppenspielerin der Projektionen und hat auch den Text stark geprägt.
Inwiefern?
Sie wollte ein Drehbuch. Ich habe gesagt, das wäre unmöglich vereinbar mit meiner prozessorientierten Arbeitsweise. Ich wollte wie gesagt kaum und nur formelhaften Text, hatte die Motive, Erzählungen, Figuren und Formeln in einem Kartensystem
kategorisiert, die Struktur der Bewegungspartitur im Raum entworfen und wollte jede Probe mit einer Art Tarot-Reading beginnen. Vorbild für die Hauptfigur war ja eine Hexe oder Göttin, außerdem beziehe ich mich auch auf schamanische Praktiken aus Sibirien, religiöse Vorstellungen, und in besagtem Zwischenraum zwischen Leben und Tod, den wir betreten, ist schließlich sämtliche Magie denkbar.
Als die Videografin im Vorfeld aber nicht locker ließ und wenigstens schriftlich wissen wollte, was ich schon vor meinem inneren Auge sehe, schrieb ich eben auf, was ich schon alles wusste. Dabei ist der Text mit mir durchgegangen, begann, sich zu belügen, zu widersprechen, sich zu verselbständigen. Es stellte sich heraus, dass Teile dieser Beschreibung von der Spielerin auf der Bühne gesprochen werden müssen... und mit der Zeit wurde die Beschreibung genau zu dem Text, den ich brauchte, zu genau der Formel, nach der ich gesucht hatte, zum Singsang des Rituals, zum tanzenden Körper.
Jetzt ist es auch mit UNS hier im Gespräch durchgegangen: bei meiner Frage danach, was das mit Puppentheater zu tun hat, hast du nämlich vorhin mit "zum einen" angefangen. Bevor Du "zum anderen" kommen konntest, hab ich Dich vom Weg abgrebracht. Was wäre denn also "zum anderen"?
Ach ja, da sind wir doch gerade: Der tanzende Körper! Meist verläuft man sich eh da hin, wo man hin wollte. Ich habe mich in Vorbereitung auf das Stück mit einem Tanz- bzw. Körpertheaterstil des Choreografen Mehdi Farajpour beschäftigt. Bei der von ihm entwickelten Bewegungsmethode "Empty Body", die einige Ähnlichkeiten zu Meyerholds Biomechanik aufweist, wird der Körper gewissermaßen als Puppe bedient: Erforscht wird, wie alle Anzeichen von Persönlichkeit / Identität / Individualität aus dem Körper entfernt werden können, damit der Darsteller zu einem leeren Körper, "Empty Body" wird. Die Methode erforscht auch, was nötig ist, um den Körper dann doch noch bewusst zu steuern, wie man sich als Darsteller somit in die Lage versetzt, als Puppenspieler des eigenen Körpers, der als Grafik im Raum, als Material, als Puppe dient, zu agieren.
Deine Bewegungspartitur ist also ein Tanz zwischen Leben und Tod?
Obwohl die Todesmotivik sich durch den Text zieht ist das Stück auch sehr lustig. Der Text will uns foppen, die Stimmen streiten sich, widersprechen sich, scheinen getrennt zu sein und doch ist es eine Frau. In ihrer scheinbaren Einsamkeit ist alles vorhanden, die ganze Welt. Deshalb sind Eier unser einziges Requisit. „Der goldene Moment“ befindet sich genau da an der Stelle der Stückes, wo, würde man es zerteilen, der goldene Schnitt wäre. In dieser Szene, in der die besagte Marionette auftaucht, sehen wir diesen toten, weil einer Puppe gehörenden Körper in einer kleinen Bühne, die der großen gleicht, ganz allein durch dieselbe allegorischen Welt spazierend und in derselben Textschleife gefangen. Entstanden ist ein ganzes Universum, bestehend aus einer einzigen Person, die durch die Tiefen ihrer eigenen Existenz wandert, einmal ganz um ihre Welt herum und am Schluss wieder im konkreten Leben ankommt. Ein theatrales Erlebnis ähnelnd einer Nahtoderfahrung, einem dunklen Märchen, einem schamanischen Ritual oder einem endlosen Gebet.
Von meiner anfänglichen Arbeitsparole bin ich übrigens abgerückt. All jene, deren Zeit noch nicht gekommen ist, haben in Baba Yagas Totenhaus nichts verloren. Man kann aber von der Begegnung mit ihr profitieren. Wer furchtlos genug ist und sich ihr beherzt stellt, wird reich belohnt. Gerade das Schlechte, Schlichte, Schwache, scheinbar Wertlose, das sie schenkt, bringt das große Glück. In diesem Sinn ist unser ''Totentanz'' ein melancholisches Plädoyer für das Leben. Schließlich sorgt das Bewusstsein des Todes auch dafür, dass wir das Leben genießen.
VOICE:
„Am Ende bringt Ines Heinrich-Frank mit einem anspruchsvollen, sehr innerlichen Solo für wenigstens vier Frauen (und im Gespräch mit deren Video-Animationen) die Poesie zurück. Leichtes Brot wird dabei nicht gereicht. Es ist ein Abend, der es in sich hat. Doch man soll ihn sich getrost ansehen.“
Andreas Montag, Mitteldeutsche Zeitung
QUOTE:
Die erste Frau ist eingeschlafen. Oder tot. Wer weiß das schon? Die zweite Frau trinkt immernoch. Sie brabbelt vor sich hin. Nein. Sie rezitiert! Sie rezitiert!
(Plumsklo - Zeitungspapier, Scheißmeldungen)
Mehr als 70 Tote durch Badezusatz. Mittlerweile liegt die Zahl der Todesopfer bei 71, teilte das Katastrophenschutzministerium mit. Die Menschen haben das illegal hergestellte Kosmetikprodukt als Ersatz für billige Spirituosen getrunken.
Sie rezitiert und dabei trinkt sie. Trinkt sie? Sie wird jedenfalls sehr betrunken. Vielleicht versinkt sie vielmehr. Wird geradezu flüssig, also zerfließt.
Das Gebrabbel plätschert aus, verebbt, sie verstummt.
Es schneit immernoch.
Die Frau hat sich hingelegt. Nein, ihr ist nicht kalt! Sie schläft ein.
... wie das so ist, wenn man durch frischgefallenen Schnee geht... man hat das Gefühl, man ist der erste Mensch und man geht zum ersten Mal durch den Schnee...
Die erste Frau, die auch die Frau ist, erwacht. Mehr tut sie nicht. Sie erwacht. Sie erwacht niemals ganz. Erwachen ist ihr ganzes Leben.