DAS HEIDI
Eine vielstimmige Vorstellung übers Herausgerissensein | von Katharina Kummer
Katharina Kummer setzt Motive aus Johanna Spyris Kinderbuch in einen Dialog mit Erfahrungswelten heutiger Menschen.
Photos: Milan Koch
Heidi wird zu ihrem von aller Welt gefürchteten Großvater in die Berge gebracht - und liebt es in der freien Natur: mit den Gezeiten, dem Ziegenpeter… und dem Alten, dessen Herz in Gegenwart der unbekümmerten Enkelin zu schmelzen beginnt. Doch kaum hat Heidi Wurzeln geschlagen, wird sie wieder herausgerissen und nach Frankfurt gebracht. Da soll sie einem Mädchen im Rollstuhl zur Belustigung dienen und beim strengen Fräulein Rottenmeier eine anständige Erziehung genießen.
Die Inszenierung greift den Gegensatz von Zivilisation und Natur auf und erkundet ganz unterschiedliche Lebensweisen. Katharina Kummer lässt durch den bekannten Plot Stimmen von heutigen Menschen erklingen, die aus ihren Leben vom Herausgerissensein, von Migration und Kulturschocks berichten können. Der Rapper Volkan T. spielt die Titelfigur und macht zusammen mit dem Ensemble nicht zuletzt in musikalischer Form die Motive des Stücks erfahrbar für heutige Berliner - ob sie nun hier geboren oder zugezogen sind.
Für sehendes, blindes und sehbehindertes Publikum.
Artikel Morgenpost / Rubrik „Ganz persönlich“:
DAS HEIDI ist der Titel. So wird Heidi tatsächlich im Buch genannt. Ich habe den neutralen Artikel weniger deshalb gewählt, weil ein Mann - der Rapper Volkan T. - Heidi spielt, sondern weil ich Heidi nicht als ein konkretes Schweizer Mädchen erzähle, sondern als Prinzip. Meine Heidi ist eine vielstimmige Vorstellung vom Herausgerissensein. Als ich vor einigen Jahren das Buch las, stellte ich fest, dass Motive, Themen und Ereignisse des Plots oft wortgenau den Erzählungen eines Freundes glichen, der als Kind aus Kurdistan ins Ruhrgebiet migriert war. Die innere Verbindung zur Landschaft, den Wetterlagen, die Beschreibung der Hirten, die Bedeutung der Ziegen und dann - wie bei Heidi - die Erfahrung des Herausgerissenseins: der Kulturschock in der westdeutschen Industriestadt, wo selbst Grünanlagen wirken wie sterile Sparkassenhallen - nicht annähernd vergleichbar mit der Natur, in der man aufgewachsen ist. In Zusammenarbeit mit dem Theater o.N., an das ich immer wieder gerne zurückkomme und das sich mittlerweile wie ein zu Hause anfühlt, ist der Kontakt zu Berliner Jugendlichen gewachsen, deren Stimmen mit denen des Buches verschmelzen. Und eine blinde Performerin ist zum Ensemble dazugestoßen. In Spyris Text findet ein Mädchen durch die Befreiung vom Rollstuhl ihr Glück. Bei uns findet Glück nicht nur in Abwesenheit, sondern auch inklusive sogenannter Behinderungen statt.
Quotes:
Was soll ich erzählen? Keine Ahnung.
Was wolltest du erzählen?
Dann brauchst du auch nix erzählen.
Mein Hobby ist einfach zu Hause bleiben.
Gehst du nie raus?
Und wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du dann machen?
Weiß nicht. Rausgehen vielleicht.
Arie des Öhi
…und wenn ich mit meinem dicken Stock
im Jahr einmal herunterkomme,
so weicht mir alles aus
ALLE: und muss sich vor ihm fürchten
Großmutter: Siehst Du, wenn man nichts sehen kann, dann hört man gern ein freundliches Wort. Ich kann übrigens wirklich nicht sehen. Steht auch im Pressetext: Dem Ensemble gehört eine blinde Performerin an. Die bin ich, Silja Korn. Komm, Volkan T., du Titelfigur, setz Dich zu mir und erzähl mir etwas.