Der Schaum der Tage oder: die Lachsforelle
auf Grundlage des Romans „L’Écume des jours“
von Boris Vian
Theateradaption/Text/Regie: Katharina Kummer, Premiere am Theater Koblenz 2022
Inszenierung/Text: Katharina Kummer
Bühne und Kostüme: Julia Bosch, Sophia Linhart
Puppenbau: Stefanie Waldner
weitere Puppen von: Claudia Six, Frank-Alexander Engel, Hagen Tilp, Lisette Schürer
Musik: Carina Wohlgemuth
Dramaturgie: Juliane Wulfgramm
Duft: Annette Neuffer
mit:
Katharina Halus
Svea Schiedung
Anastasiia Starodubova
Carina Wohlgemuth
QUOTE:
„Ich
möchte
mich
in
eine
Quitte
verkriechen,
weil sie so schön duftet
und weil ich da meine Ruhe hätte!“ 💛
👀
👄
INTERVIEW:
„Der Schaum der Tage“ in Koblenz.
Aus dem Beitrag von Manfred Jahnke:
Ein Interview mit der Regisseurin Katharina Kummer
Katharina Kummer, die in Koblenz keine unbekannte Regisseurin ist, hat eine Spielfassung geschaffen, die sich einerseits eng an den Handlungen und den Figuren der Vorlage hält, andererseits aber auch auf das fokussiert, was die surrealistischen Bilder zu verdecken scheinen, nämlich die soziale Situation der Akteure. Sie tut es aber auf eine Art und Weise, die die Perspektivenvielfalt Vians in das Theater hineinrettet. (...) Was sie dabei besonders an Vian interessiert, hat Katharina Kummer in einem Interview mit dem Autor dieses Artikels formuliert, das hier vollständig zitiert wird.
Manfred Jahnke: Wie sind Sie auf den Roman gestoßen? Was hat Ihr Interesse geweckt?
Katharina Kummer: Ich inszeniere ja nun schon zum vierten Mal in Koblenz und vor einigen Jahren saß ich mit der Chefdramaturgin Juliane Wulfgramm bei einer Besprechung im Café. Sie erzählte mir von dem Roman, der für sie persönlich eine große Bedeutung hat. Das geht übrigens fast allen so, denen ich mittlerweile erzählt habe, dass ich ihn auf die Bühne übersetze. Ich bin sofort darauf angesprungen. Er ist als surrealistischer Text, in dem nahezu alles belebt ist, prädestiniert für unser Metier. Er hat mir auch Lust auf Puppe gemacht in dem Sinn, wie auch das fachfremde Publikum Puppe versteht, also als eine gestaltete Theaterfigur. In den letzten Jahren habe ich ja meist den Puppenbegriff sehr weit und abstrakt gefasst, aber in die Welt dieses Romans passen klassische Puppen perfekt!
Manfred Jahnke: Wie eng bleiben Sie am Roman? Für welche Handlungsstränge haben Sie sich entschieden? Sie haben gerade auf die Affinität des Romans zum Puppentheater hingewiesen, dennoch noch einmal die Frage: Warum haben Sie sich für das Genre Puppentheater entschieden?
Katharina Kummer: Ich bleibe, was den Plot angeht, sehr eng am Roman. Storylines gilt allerdings nie mein Hauptinteresse, sondern Motiven oder auch Motivsträngen. Hier macht die Übersetzung in ein anderes Medium einen großen Shift nötig. Die Über-Fülle an Bildern und Motiven, die sich im Roman durch die Sprache transportiert, übertrage ich ins Medium Theater, indem ich unterschiedlichste Spielweisen und Ästhetiken collagiere. Der surrealistische Text wird dadurch zum bewegten, belebten und choreografierten Bilderbuch. Die Bühne und die Kostüme bilden eine Art Traummasse – die Folie, auf der all die bizarren Erscheinungen des Romans entstehen. Die Puppen entspringen bewusst ganz verschiedenen künstlerischen Handschriften. Meine Entscheidung, die Hauptfiguren des Romans von allen drei Spielerinnen spielen zu lassen, hat zur Folge, dass sich sogar noch innerhalb jedes einzelnen Charakters eine Multiperspektivität auffaltet. Hinter jeder Figur erscheint ein Kaleidoskop vorstellbarer Innenwelten. Der Körper der Figur als Puppe ist zwar immer der gleiche, aber dadurch, dass er jeweils von unterschiedlichen Spielerinnen belebt wird, wohnen in einem Wesen immer mehrere Geister, wird ein Körper von vielen Seelen durchzogen. Somit ist die Inszenierung auch ein Bühnenessay über die Frage: Was an uns ist eigentlich essentiell und wie viele Geister oder Motive aus Menschen, Träumen und Zeiten ziehen durch uns hindurch?
Noch ein Wort zu Ihrer Frage, für welche Handlungsstränge – die ich ja als Motivstränge betrachte – ich mich entschieden habe: Die Liebesgeschichte, die zum Beispiel die Verfilmung ins absolute Zentrum rückt, ist bei mir nur eine Ebene von vielen. Wie Sie sehen, ist die Chloé-Figur bei mir auch die am wenigstens ausgestaltete – das habe ich so entschieden, weil Chloé auch im Roman, so, wie ich ihn lese, in erster Linie Projektionsfigur des wilden Sich-Verlieben-Wollens von Colin ist. Das Objekt dieser Verliebtheit bleibt sehr unprofiliert. Viel eindrücklicher als Chloé ist ihre Krankheit, die eifersüchtige Seerose. Mich persönlich hat am meisten beeindruckt, wie Vian inmitten des verschnörkelt grotesken Bildfeuerwerks, das sich als knallbunte Collage verkleidet, eigentlich auf messerscharfe Weise die sozialen Verhältnisse und den sozialen Abstieg Colins zeichnet. Für mich ist der Roman in erster Linie eine von einigen anderen Motivsträngen – wie Liebe, Krankheit, Sucht, Krieg, Kunst und Arbeitswelt – umrankte Sozialstudie. Alle anderen Motivstränge sind an das Zentrum dieser Analyse sozialer Verhältnisse angebunden, sie ist meiner Ansicht nach der Knotenpunkt.
Manfred Jahnke: Sie haben in einem Interview gesagt: „Mich interessiert Theater in der Hinsicht, wie und wo es aus dem Ritual stammt.“ Nun haftet dem Puppentheater in seiner langen Geschichte die Sinnhaftigkeit eines Rituals an. Inwieweit versuchen Sie das Religiös-Ritualhafte des Genres in Ihrer Arbeit zu aktivieren?
Katharina Kummer: Das, was Sie religiös-ritualhaft nennen, ist für mich die Grundlage des Puppentheaters. Insofern muss ich diesen Aspekt gar nicht reaktivieren, denn er ist aus meiner Sicht das Element, das das Puppentheater per se umgibt: ein animistisches Weltverständnis, in dem nicht nur Menschen und Tieren oder bestenfalls noch Pflanzen eine Seele unterstellt wird, sondern allem Seienden. Und zu allem Seienden gehören dann auch etwa wie bei Vian schon im ersten Kapitel die Sonnenstrahlen, die Kanalisation, die uns umgebenden Objekte und Erscheinungen. Und meines Erachtens kann auch ein Wort, ein Konzept, eine Vorstellung oder ein Gedanke eine Puppe sein, wenn ich ihr Leben unterstelle, bzw. zugestehe und es damit belebt wird, handelndes Element sein kann.
Im von Ihnen zitierten Interview spreche ich allerdings vom Theater generell und gar nicht speziell vom Puppentheater. Und das Ritualhafte am Theater ist meiner Ansicht nach wiederzugewinnen, indem man sich traut, von einer bestimmten Art des „Verstehens“ sich zu verabschieden. „Verstehen“ im Hinblick auf Theater ist oft geradezu kontraproduktiv. Im Theater, das mich interessiert, und so wie es vom Ritual abstammt, liegt der Fokus auf dem gemeinsamen Erleben, nicht auf dem Verstehen. Das Kostbare und gleichzeitig auch Dramatische des Theaters wie des Lebens ist, dass es sich nur in einem Moment ereignet. Es ist dann vergangen. Wie das Leben. Wer da war, hat es erlebt, wer nicht da war, kann es nicht mehr erleben. Es ist nicht festzuhalten. Es gleicht einem Mysterienspiel, einer Initiation. Und dieses ist natürlich präzis gestaltet.
Manfred Jahnke: Sie arbeiten mit ganz verschiedenen Puppenarten. Aus welchem Grund?
Katharina Kummer: Ich verwende bewusst Puppen von unterschiedlichen Puppenbauern, also mit unterschiedlichen Handschriften. Außer einer Figur von Stefanie Waldner ist keine der Figuren extra für die Inszenierung gebaut. Die Puppen hatten alle schon andere Rollen in anderen Theaterwelten. Es ist eine mit Bedacht zusammengesetzte Collage. Zwei Beispiele: Colin und Alise, die immer wieder und besonders am Ende des Romans/Stücks feststellen, dass sie eigentlich bessere Partner füreinander wären als ihre jeweiligen Geliebten, sind buchstäblich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es sind sehr wertvolle Puppen des in Kalifornien lebenden und in unserer Szene berühmten Puppenbauers Hagen Tilp. Ich kenne die beiden gut. Das Puppentheater Halle hat sie uns freundlicherweise geliehen und ich selbst war damit jahrelang mit ihnen auf Tournee – es waren einmal Figuren aus den „Buddenbrooks“ (Thomas Mann). Also die beiden Romanfiguren, die vom gleichen vornehmen Stande sind, werden verkörpert durch kompliziert zu spielende per se wertvolle Puppen. Chick, der aufgrund seiner ärmlicheren Herkunft und als Bücher-Junkie der Werke und Reliquien des Schriftstellers Jean-Sol Partre nicht die Mittel hat, seine Alise zu heiraten, hingegen ist eine nach einem Entwurf von Lisette Schürer genähte weiche ausgestopfte Stoffpuppe, der man gleich ansieht, dass sie im Gegensatz zu den beiden skulpturenhaften bürgerlichen Gestalten aus Hagens Feder schnell hergestellt ist und ohne Spielerin in sich zusammenfallen muss. Der Konflikt materialisiert sich wie ein soziales Verhältnis meist auch schon von vornherein ganz augenscheinlich: Wie soll der labberige Stoffmann mit den Knopfaugen der bildhauerisch gestalteten Alise zur Seite stehen? Aber natürlich spielt sich die naiv anmutende Figur des Chick umso mehr in unsere Herzen. Denn später, wenn die zusammenpassenden Romanfiguren Alise und Colin sich begegnen, verpassen sie sich wieder. Im Stück wird das dadurch erlebbar, dass zunächst Colin, dann auch Alise bei ihrer großen Annäherung gegen Ende in die Ebene der Menschen wechseln und als solche erkennen müssen, dass sie die Zeit, in der eine Verbindung zwischen ihnen möglich gewesen wäre, längst verpasst haben.
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