Woyzeck - ein Solo für drei Personen
Premiere am Landestheater Neuss, 2021
Text: Georg Büchner
Regie: Katharina Kummer
Special Effect (Kreatur): Moran Sanderovic
Ausstattung: Julia Bosch
Dramaturgie: Olivier Garofalo
Korrepetition: Tilman Brand
Photos: Marco Piecuch
Mit:
Johannes Bauer
Niklas Maienschein
Nelly Politt
Willst Du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?
INTERVIEW:
Auszug: Gespräch Katharina Kummer und Olivier Garofalo
Olivier Garofalo:
Bei Büchner verfällt Woyzeck dem Wahn. Wobei zu klären wäre, ob er aus sich heraus wahnsinnig wurde (an dieser Stelle sei dieser Ausdruck erlaubt, der alles andere als ein medizinischer Ausdruck ist und wodurch jegliche Formen von psychischen Problemen auf keinen Fall lapidar als Wahnsinn bezeichnet werden sollen) oder der gesellschaftliche Wahnsinn ihn nicht vereinnahmt. Ist Woyzeck nicht auch dadurch ein überaus gegenwärtiger Text, droht zumindest die westliche Gesellschaft in eine grenzenlose Unvernunft zu verfallen?
Katharina Kummer:
Den letzten Teil deiner Frage kann ich schwer beantworten, weil ich anscheinend ein ganz anderes Verhältnis zu den von dir verwendeten Begrifflichkeiten habe. Die sogenannte Vernunft, mit der die sogenannte »westliche Welt« sich selbst und den globalen Süden überzogen hat, geht seit der sogenannten Moderne mit einem verheerenden Machbarkeitswahn einher. Im Namen der Vernunft wird vermutlich ähnlich viel Unheil angerichtet, wie im Namen von Religionen.
Woyzeck verfällt dem Wahnsinn, sagst du. Wer oder was ist Woyzeck? Woyzeck ist eine von Büchner erdachte Figur, die unter anderen Figuren in dem gleichnamigen Drama »Woyzeck« eingeschrieben ist. Zur Zeit Büchners befreite man die sogenannt Wahnsinnigen, die bis dato teils angekettet wie Strafgefangene interniert waren. Die Anschauung von Wahnsinn wandelte sich von der Auffassung, er sei eine Strafe Gottes, hin zu einer medizinischen pathologisierenden Perspektive. Personen, die unter die Kategorie geisteskrank fielen, wurden nun zu »Fällen« - ausgesetzt dem Interesse der Doktoren. Auch Büchner, dem Medizinstudenten, unterstelle ich einen gewissen - zwar künstlerisch empathischen, aber dennoch schaulustigen - Voyeurismus gegenüber der von ihm geschaffenen Hauptfigur. Gleichzeitig stellt Büchner in Gestalt des Doktors dieses pathologisierende Interesse als für das betrachtete Objekt höchst problematisch dar.
Was treibt einen dazu zu tun, was man tut? All die Stimmen, die in einem Menschen wüten, von den Eltern, über Vorangegangene, über die Kultur, die einen geprägt hat. Was treibt einen dazu zu tun, was man tut, zu morden zum Beispiel? Welche Gewalt, die man erfahren hat, agiert man da aus, welche der vielen Figuren, die in einem wohnen, handelt da durch einen? Alle diese sich auch widersprechenden Positionen in einen Akteur zu verlagern, finde ich viel aufschlussreicher, als den Mörder, die Hure, den starken Mann oder den, der dem Männlichkeitsanspruch nicht gewachsen ist, den voyeuristischen Arzt, den verzweifelt Liebenden oder gar den armen gejagten »Wahnsinnigen« in irgendeiner Außenkonstellation aufzustellen. Sie erscheinen alle als Aspekte der einen Figur, die bei uns den meisten Text spricht. Und so kann diese »Woyzeck«-Figur auch für jeden von uns stehen, nicht nur für einen speziell als abweichend oder krank definierten, weil ja in jeder von uns unzählige Stimmen hausen.
Olivier Garofalo:
Ich habe vorhin den Begriff des Wahnsinns eingeordnet. Insbesondere mit Blick auf psychische Erkrankungen ist dieser Ausdruck alles andere als angebracht und ist eigentlich ein historisches Überbleibsel. Heute würden wir von Depressionen sprechen. Leider wird diese Krankheit eben auch aufgrund des historischen Umgangs immer noch tabuisiert. Droht aber nicht gerade die Depression zur Volkskrankheit zu werden, eine Krankheit, gegen die nicht geimpft werden kann, jedoch vermeidbar wäre?
Katharina Kummer:
Wieder muss ich dir widersprechen. Wenn ich an Woyzeck eine der gängigen Diagnosen anwenden wollte, wäre es nicht Depression, sondern Schizophrenie. Aber auch hier will ich dem Stoff lieber mit anderen Begrifflichkeiten bzw. aus einer anderen Perspektive begegnen.
Mein Mittel, über den Text, wie du vorhin sagtest, hinauszugehen, ist es, fast alle Sprechfiguren des Dramas in einem Darsteller zu versammeln. Und das ist es auch, was ich gegenwärtig finde. In dem Sinne, als dass - keine Neuigkeit – das, was uns westlichen Weltler quält, zunehmend gar nicht mehr als externe Machtfigur auftreten muss, sondern in uns selbst wohnt. Wenn man so möchte, macht das krank. Aber der Krankheitsbegriff wirft diese, wie ich finde doch ursprünglich äußere Gewalt fälschlicherweise auf den an ihr Leidenden zurück.
Meine Interpretation des Woyzeck ist in diesem Sinne ja nicht krank, die Figur, die ich mit der Grundsatzentscheidung eines Solos ausgehend von Büchners Text entwerfe, ist einfach ein Mensch, in dem viele Stimmen wohnen. Das ist eine Metapher für den Menschen an sich, keine individuelle Figur eines Abweichlers, nein, das schiere Wesen des Menschlichen.
Ich habe übrigens einen Vorschlag für eine Impfung. Bzw. den hatte schon die von mir geschätzte Punk-Philosophin Kathy Acker: »GET RID OF MEANING. YOUR MIND IS A NIGHTMARE THAT HAS BEEN EATING YOU: NOW EAT YOUR MIND.«
Olivier Garofalo:
»Moral, das ist, wenn man moralisch ist.« Diese Tautologie, insbesondere mit Blick auf die Art und Weise, wie der Hauptmann in dieser Szene mit Woyzeck umgeht, steht für die gesellschaftliche Sinnentleertheit. Wie lässt sich diesem einen Leben, das wir haben, oder überhaupt dem Leben, wieder Sinn zufügen?
Katharina Kummer:
Aber das wäre ja Hybris zu denken, es wäre unsere Aufgabe, dem Leben wieder einen Sinn zuzufügen. Als hätte das Leben an sich den Sinn verloren und wäre aufgeschmissen, wenn wir ihm nicht die Gnade der Sinngebung zuteilwerden ließen. Dem Leben ist es meiner Ansicht nach völlig egal, ob wir ihm Sinn zuordnen. Ihm Respekt entgegenbringen, dafür plädiere ich. Das Leben ist beyond Sinn. Es schuldet uns keinen Sinn. Es darf einfach sein. Das ist sein Grundrecht. Freud, der mir sonst gestohlen bleiben kann, hat eine tolle Sache zur Sinnfrage gesagt: Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht. Warum wir am Leben bleiben, obwohl uns alles zum Selbstmord drängt? Mir geht eine Formel im Kopf herum, die ich für das kühnste und gelungenste Stück Reklame halte: »Why live if you can be buried for 10 Dollars?«